In seinem Urteil vom 06.09.2018, C- 527/16 (Alpenrind, ua.) betonte der EuGH den bindenden Charakter der A1-Bescheinigungen sowie den Grundsatz der Rechtssicherheit in Bezug auf die Eingliederung der Arbeitnehmer in ein Sozialversicherungssystem.

Entsendung von Arbeitnehmern aus Ungarn nach Österreich

Die in Österreich ansässige Gesellschaft Alpenrind betreibt einen Schlachthof und schloss im Jahr 2007 mit dem ungarischen Dienstleister Martin Meat einen Vertrag über Subunternehmertätigkeiten im Bereich Fleischzerlegung. Als Martin Meat diesen Bereich aufgab, lösten die Arbeitnehmer der ebenfalls in Ungarn ansässigen Martimpex die ungarischen Kollegen von Martin Meat ab.

Für die etwa 250 entsendeten Arbeitnehmer von Martimpex stellte der zuständige ungarische Sozialversicherungsträger – teilweise rückwirkend und teilweise in Fällen, in denen der österreichische Sozialversicherungsträger bereits festgestellt hatte, dass der betreffende Arbeitnehmer nach den österreichischen Rechtsvorschriften pflichtversichert sei – Bescheinigungen über die Anwendung der ungarischen Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit (A1 Bescheinigung) aus. Die Salzburger Gebietskrankenkasse (SGKK) pochte jedoch darauf, dass die entsendeten Arbeitnehmer der österreichischen Pflichtversicherung unterliegen.

Vorabentscheidungsersuchen zur Bindungswirkung von A1-Bescheinigungen

Der mit diesem Verfahren befasste Verwaltungsgerichtshof (VwGH) ersuchte den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in einem Vorabentscheidungsersuchen (Ro 2016/08/0013, 14.09.2016) um Klarstellung, unter welchen Voraussetzungen eine A1-Bescheinigung für österreichische Behörden und Gerichte verbindlich ist. Die SGKK sowie der Bundesminister für Arbeit und Soziales haben vor dem VwGH geltend gemacht, dass die Bindungswirkung nicht absolut sein könne.

EUGH: A1-Bescheinigung entfaltet Bindungswirkung

In seinem Urteil vom 6. September 2018 (EuGH 06.09.2018, C-527/16 (Alpenrind, ua)) hat der EuGH ausgeführt, dass eine „A1-Bescheinigung nicht nur für den Träger des Mitgliedsstaates, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird, sondern auch für die Gerichte dieses Mitgliedsstaates verbindlich ist“, solange sie vom Herkunftsmitgliedstaat weder widerrufen noch für ungültig erklärt worden ist. (außer im Fall von Betrug oder Rechtsmissbrauch, vgl. EuGH 06.02.2018, C-359/16). Dies gilt auch dann, wenn – wie im vorliegenden Fall – die Sozialversicherungsträger der beiden Mitgliedstaaten, die europäische Verwaltungskommission für die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit angerufen haben und diese zu dem Ergebnis gelangt sei, dass die von Ungarn ausgestellte A1-Bescheinigung zu Unrecht ausgestellt wurde und widerrufen werden sollte.

Anknüpfend an die bisherige Rechtsprechung bestätigt der EuGH ferner, dass eine A1-Bescheinigung rückwirkend verbindlich sein kann, auch wenn der zum Zeitpunkt ihrer Ausstellung zuständige Sozialversicherungsträger des Aufnahmemitgliedsstaats (hier: SGKK), bereits entschieden hat, dass der betreffende Arbeitnehmer nach seinen Rechtsvorschriften pflichtversichert ist.

Verschärfung des Ablöseverbots

Bislang wurde das Ablöseverbot dahingehend verstanden, dass es einem Unternehmen nicht gestattet ist, nacheinander verschiedene Arbeitnehmer im Ausland zur Ausführung derselben Tätigkeiten einzusetzen. Der EuGH stellte nunmehr klar, dass es für die Frage des Ablöseverbots nicht darauf ankommt, ob die jeweiligen Arbeitgeber der beiden betreffenden Arbeitnehmer ihren Sitz im selben Mitgliedstaat haben oder ob zwischen ihnen personelle oder organisatorische Verflechtungen bestehen. Vielmehr kommt es allein darauf an, ob der entsendete Arbeitnehmer einen anderen entsendeten Arbeitnehmer ablöst. In diesem Fall unterliegt der ablösende Arbeitnehmer den Vorschriften des Sozialversicherungssystems am Arbeitsort.

Karin Köller, LL.M.
Mag. Silva Palzer