Das Doppelbesteuerungsabkommen Deutschland/Schweiz enthält in Art. 15 Abs. 4 eine Besonderheit, die es in den üblichen Doppelbesteuerungsabkommen nach OECD Muster nicht gibt. Sie betrifft die Regelung der Einkommensbesteuerung von leitenden Angestellten aus dem Arbeitsverhältnis. Danach hat derjenige Staat das Recht, das Einkommen eines leitenden Angestellten zu versteuern, in dem die Gesellschaft, für die er arbeitet, ihren Sitz hat. Der Wohnsitz des leitenden Angestellten ist dabei abweichend von der üblichen Regel nicht relevant.

Zum Beispiel ist eine Person mit Wohnsitz in Deutschland, die als leitende Angestellte einer in der Schweiz ansässigen Kapitalgesellschaft tätig ist, nicht in ihrem Wohnsitzstaat Deutschland, sondern mit den Erträgen aus dieser Tätigkeit in der Schweiz (d.h. dem Sitzstaat der Gesellschaft) zu besteuern, sofern die Tätigkeit nicht so begrenzt ist, dass sie nur Aufgaben außerhalb der Schweiz umfasst. Dasselbe gilt spiegelbildlich für den Fall, dass eine Person mit Wohnsitz in der Schweiz als leitende Angestellte einer in Deutschland ansässigen Kapitalgesellschaft tätig ist. Es gilt die Fiktion des Tätigkeitsortes im Ansässigkeitsstaat der Kapitalgesellschaft.

Diese Sonderbestimmung gilt nicht für leitende Angestellte, die zugleich als Grenzgänger im Sinne des Doppelbesteuerungsabkommens gelten.

Die Auslegung dieser Vorschrift des Doppelbesteuerungsabkommens stellt die Praxis immer wieder vor Probleme.

So stellt sich die Frage, welche Personen sich als leitende Angestellte im Sinne der Norm qualifizieren. Das Gesetz zählt Vorstandsmitglieder, Direktoren, Geschäftsführer und Prokuristen auf. Im Jahr 1997 haben Deutschland und die Schweiz im Rahmen einer Verständigungsvereinbarung vereinbart, dass die Norm auch auf stellvertretende Direktoren und Generaldirektoren anzuwenden ist, sowie auf Personen, die nicht im Handelsregister eingetragen sind. Die bisherige Verständigungsvereinbarung wurde durch eine neue Verständigungsvereinbarung ersetzt. Danach gilt seit 2009 Art. 15 Abs. 4 des Doppelbesteuerungsabkommens nur noch für solche Personen, deren Vollmacht oder Funktion als Mitglied des Vorstands, Direktor/Generaldirektor, stellvertretender Direktor/ Generaldirektor, Geschäftsführer oder Prokurist im Handelsregister eingetragen ist.

Die deutsche Rechtsprechung erkennt das Erfordernis der Eintragung in einem Handelsregister regelmäßig nicht an. Die Verständigungsvereinbarung stünde dem eindeutigen Wortlaut des Abkommens entgegen und würde eine steuerschärfende Wirkung haben. Überhaupt bestehen teilweise unterschiedliche Auslegungen dieser Bestimmung und der Verständigungsvereinbarung zwischen den deutschen und schweizerischen Steuerbehörden.

In einem aktuellen Urteil des Finanzgericht Münster („FG“) vom 21. März 2019 (Az. 6 K 2185/17 E) hatte das Gericht entschieden, dass eine Handelsregistereintragung nicht Voraussetzung für Stellung als leitender Angestellter im Sinne des Art. 15 Abs. 4 des Doppelbesteuerungsabkommens ist. Demzufolge können die vom Kläger in der Schweiz erzielten Einkünfte nicht in Deutschland besteuert werden. Das FG ist der Auffassung, dass die Verständigungsvereinbarung zwischen Deutschland und der Schweiz so auszulegen ist, dass diese nur den von Art. 15 Abs. 4 des Doppelbesteuerungsabkommens erfassten Personenkreis konkretisieren kann, nicht aber den zeitlichen Beginn der Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis. Das Abstellen auf den Zeitpunkt der Handelsregistereintragung soll danach nicht möglich sein. Ob es sich bei der Verständigungsvereinbarung um Verwaltungsvorschriften handelt, die geeignet sind, positives Recht in verbindlicher Weise zu ändern, wurde vom FG nicht erörtert.
Die Finanzverwaltung hält demgegenüber auch nach dem Urteil weiter an der Auffassung fest, dass Art. 15 Abs. 4 des Doppelbesteuerungsabkommens nach der Verständigungsvereinbarung nur auf Personen anwendbar sei, deren vom Anwendungsbereich der Vorschrift umfasste Funktion im Handelsregister eingetragen ist. Die Finanzverwaltung hat gegen die Entscheidung des FG Revision zum Bundesfinanzhof eingelegt (Az. I R 23/19). Der Bundesfinanzhof hatte in früheren Urteilen entschieden, dass Verständigungsvereinbarungen die Gerichte nicht binden. Es bleibt daher abzuwarten, wie der Bundesfinanzhof in diesem Verfahren entscheiden wird und ob bzw. welchen Einfluss dessen Urteil auf die Praxis der Finanzverwaltung haben wird.

Dr. Manuel Melzer
Dr. Reto Böhi